Von den schwierigen Anfängen (1963-1974)

Schwierige Anfänge (1963-1974)

 

Konrad Adenauer, einer der Urväter des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags, war im Oktober 1963 gezwungen, sich vom politischen Leben in Deutschland zurückzuziehen. Entgegen dem ausdrücklichen Willen Adenauers wurde Ludwig Erhard und damit einer der größten Gegner des Elysée-Vertrags am 16. Oktober 1963 zum zweiten deutschen Bundeskanzler gewählt. Mit der Wahl Erhards – bis dato Wirtschaftsminister und Vater des Wirtschaftswunders – kühlten die deutsch-französischen Beziehungen ab. Tatsächlich waren die politischen Auffassungen Erhards kaum mit den Standpunkten General de Gaulles in Einklang zu bringen und zum Teil sogar unvereinbar. Im Gegensatz zum französischen Staatspräsidenten war der neue deutsche Bundeskanzler ein überzeugter Anhänger der transatlantischen Beziehungen und ein treuer Verbündeter der USA. Darüber hinaus zählte er zu den glühenden Befürwortern des Beitritts des Vereinigten Königreichs zum Gemeinsamen Markt und unterstützt die Schaffung einer europaweiten, ja sogar globalen Freihandelszone.

 

Ungeachtet der regelmäßigen deutsch-französischen Gipfel (zwischen 1963 und 1966 trafen General de Gaulle und Bundeskanzler Erhard insgesamt sieben Mal zusammen), die durch den Elysée-Vertrag eingeführt wurden und mit ehrgeizigen Absichtserklärungen einhergingen, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) erheblich.

 

Zu besonderen Misstönen kam es beim Bonner Gipfel am 3. und 4. Juni 1964. Dabei gab Erhard seinem Gesprächspartner zu verstehen, dass der deutschen Regierung nicht daran gelegen sei, sich zwischen Paris und Washington entscheiden zu müssen. Dies kam einer Erklärung gleich, wonach die BRD die Vereinigten Staaten bevorzugten.

 

Drei Wochen später, d. h. am 23. Juli 1964, folgte die „Retourkutsche“ General de Gaulles: Bei einer Pressekonferenz zählte er einen ganzen Katalog von Divergenzen zwischen der BRD und Frankreich auf. Unter anderem warf der französische Staatspräsident der Regierung Erhards ihre Linientreue zu Washington sowie ihre Ablehnung vor, mit Paris eine echte unabhängige europäische Politik auf die Beine zu stellen.

 

Einen weiteren Zankapfel zwischen Bonn und Paris stellte die Organisation der Verteidigung Westeuropas und dessen Beziehungen mit der NATO dar. De Gaulle war besorgt darüber, dass die BRD innerhalb der NATO mehr Gewicht erhalten könnte, und befürchtete, dass sie über das amerikanische Projekt der „Multilateralen Atomstreitmacht“ (MIF)[1] an die Atombombe gerät.  Vor diesem Hintergrund bot der französische Staatspräsident dem Bundeskanzler mehrfach an, den französischen Schutzschild auf Deutschland auszudehnen. Erhard jedoch beharrte darauf, dass nur die Vereinigten Staaten in der Lage seien, Deutschland eine Sicherheitsgarantie zu gewähren. In der Folge distanzierte sich General de Gaulle von der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Ab 1965 kam es zu einer Annäherung an die Staaten des Ostblocks und die UdSSR. März 1966 erfolgte der Bruch mit der NATO. De Gaulle gab offiziell die Absicht Frankreichs bekannt, sich der integrierten NATO-Kommandostruktur zu entziehen, und verlangt, dass alle NATO-Stützpunkte auf französischem Hoheitsgebiet ins Ausland verlegt werden. Im Anschluss wurde SHAPE von Paris nach Brüssel verlegt.

 

Neben den Verteidigungsfragen waren sich die beiden Länder auch uneinig darüber, wie der europäischen Integrationsbewegung neuer Schwung verliehen werden konnte. Die schwelende Krise von 1965 zwischen Frankreich und der BRD und den anderen Partnern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sollte schließlich in eine offene Krise münden. Ursache des Konflikts waren zum einen die Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sowie die Supranationalität der Gemeinschaften, die von den Partnern Frankreichs unterstützt wurde. Die Finanzkrise der EWG und die GAP-Krise erschütterten die Gemeinschaft bis in ihre Grundfeste. Tatsächlich verlief die Umsetzung der GAP nicht ohne Schwierigkeiten. 1963 legte Agrarkommissar Sicco Mansholt Vorschläge für die Organisation des Getreidemarkts vor. Doch die Einrichtung eines gemeinsamen Getreidemarkts entzweite Paris und Bonn. Dabei wollte Frankreich Preise durchsetzen, die nach seiner Auffassung ausgewogen, aber nicht zu hoch waren, um seine Produkte in großen Mengen in Westdeutschland absetzen zu können. Bonn wiederum favorisierte höhere Preise, zumal die BRD die Interessen seiner Landwirte schützen wollte, deren Ernteerträge geringer waren. Ludwig Erhard gab dem französischen Druck nicht nach. 1964 scheiterten mehrere Ministerräte an einer Einigung über die Festlegung der Getreidepreise. Im September 1964 griff General de Gaulle zu härteren Mitteln. Dabei drohte er der EWG mit einem Boykott, sofern nicht unverzüglich eine Lösung für die Organisation des Getreidemarkts gefunden wurde. Ludwig Erhard wurde daraufhin im eigenen Land von allen Lagern angegriffen. Selbst in seiner eigenen Partei, die Christlich-Demokratische Union (CDU), geriet er ins Kreuzfeuer der Kritik. Beispielsweise warf ihm der ehemalige Bundeskanzler Konrad Adenauer vor, die europäische Integrationsbewegung zu unterwandern. Am 15. Dezember 1964 verabschiedete der Ministerrat schließlich Preise, die leicht höher waren als die Vorschläge der Kommission. Trotz allem bleiben die Preise vergleichsweise niedrig, was Frankreich größtenteils zufriedenstellt.

 

Der Vorschlag zur Finanzierung der GAP, der 1965 von Kommissionspräsident Walter Hallstein ausgearbeitet wurde, gab den Ausschlag für die politische Krise des „leeren Stuhls“. Im Einzelnen zielte der Kommissionsvorschlag darauf ab, die Eigenmittel der Gemeinschaften unabhängig von den Mitgliedstaaten aufzustocken. Außerdem sollten das Europäische Parlament zusätzliche Haushaltsbefugnisse und die Kommission mehr Gewicht erhalten. Andererseits hatte der Übergang in die dritte Phase des Übergangszeitraums für die Einrichtung des Gemeinsamen Marktes am 1. Februar 1966 mit der Anwendung der Mehrheitsentscheidung im Ministerrat einherzugehen. Frankreich lehnte diese Entwicklung ab und betrachtete sie als inakzeptable Aufgabe seiner Souveränität.  Im Übrigen warf General de Gaulle Walter Hallstein vor, seinen Haushaltsvorschlag ohne die vorherige Zustimmung der Regierungen der Mitgliedstaaten ausgearbeitet zu haben. Schließlich befürchtete Frankreich, dass eine Koalition der Mitgliedstaaten die Gemeinsame Agrarpolitik per Mehrheitsentscheid – die es bei seinen Partnern nur mit Mühe durchsetzen konnte – infrage stellen würde. Aus diesem Grunde verstärkte die Haltung Frankreichs, das bis zum 30. Juni 1965 den Ratsvorsitz innehatte, die latente Uneinigkeit zwischen den Entwürfen der Kommission Hallstein und des Ministerrats. Durch die Ablehnung jeglichen Kompromisses beschwor der französische Außenminister der zweiten Pompidou-Regierung, Maurice Couve de Murville, das Scheitern der Verhandlungen zur finanziellen Regelung der Agrarpolitik herauf. Am 1. Juli berief die französische Regierung ihren ständigen Vertreter in Brüssel nach Paris zurück und gab die Entscheidung Frankreichs bekannt, dem Ministerrat so lange fernzubleiben, bis der französischen Position zugestimmt wurde. Dies war der Beginn der äußerst schweren politischen Krise des „leeren Stuhls“. Damit war die EWG erstmals seit Inkrafttreten der Römischen Verträge im Jahre 1958 durch einen einzigen Mitgliedstaat gelähmt.

 

Frankreich sollte den Sitzungen des Ministerrats im Anschluss sechs Monate lang fernbleiben und die EWG boykottieren. Doch da Frankreich um die Risiken, die mit einer längeren Isolation verbunden waren, und die Folgen für seine nationale Volkswirtschaft wusste, willigte es schließlich in die Aufnahme neuer Verhandlungen ein. Bei den Luxemburger Sitzungen am 17.-18. Januar sowie am 28-29. Januar 1966 schlug der luxemburgische Premierminister und amtierende Ratspräsident Pierre Werner eine Kompromisslösung vor. Der Vereinbarung zufolge hatten die Verhandlungen – sofern ein Land sehr wichtige Interessen geltend machte – so lange weiterzugehen, bis ein einstimmiges Einvernehmen erzielt oder ein für alle akzeptabler Kompromiss gefunden wurde.  Sollte dies nicht der Fall sein, verlangte Frankreich die Achtung der Einstimmigkeit (bzw. des Vetos des Staates in der Minderheit), wohingegen die fünf Länder auf den Bestimmungen des geltenden Vertrags beharrten. Trotz des unterschiedlichen Standpunkts beschlossen die sechs Mitgliedstaaten, die Arbeit der Gemeinschaften wieder aufzunehmen. Durch den „Luxemburger Kompromiss“ wurde der Geist der EWG-Verträge grundlegend geändert und den Mitgliedstaaten ein neues Druckmittel gegenüber dem Rat in die Hand gegeben. Gleichwohl lag es dabei im Ermessen des betroffenen Mitgliedstaats, die wichtigen Interessen zu definieren, außerdem war kein Schlichtungsverfahren bei Unstimmigkeit vorgesehen. Tatsächlich sollte diese Haltung die Erweiterung der Mehrheitsentscheidung für lange Zeit hinauszögern.

 

Nach der Regierungskrise in der BRD, die zum Rücktritt Ludwig Erhards geführt hatte, übernahm Kurt-Georg Kiesinger am 1. Dezember 1966 die Führung einer Koalitionsregierung aus Christdemokraten und Sozialdemokraten. Den neuen Kanzler und seinem Vizekanzler und Außenminister, Willy Brandt, war daran gelegen, die Beziehungen mit Frankreich zu verbessern, weil befürchtet wurde, dass die französisch-sowjetische Annäherung auf Kosten der BRD erfolgen könnte. Kiesinger und de Gaulle traten zwischen 1966 und 1969 insgesamt fünfmal im Rahmen von Gipfeln zusammen.

 

In diesem Zeitraum wurden einige größere Probleme geregelt, darunter insbesondere die Umsetzung der Zollunion am 1. Juli 1968 und damit 18 Monate früher als ursprünglich geplant.

 

Doch ungeachtet des guten Willens bleiben gegenseitige Missverständnisse und strittige Punkte bestehen. Als die britische Regierung beispielsweise 1967 zum zweiten Mal ihren Antrag auf Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften einreichte, kamen die größten Vorbehalte abermals aus dem französischen Lager. Hauptgrund waren die wirtschaftlichen Probleme des Vereinigten Königreichs sowie die besonderen Beziehungen (special relationship) mit den Vereinigten Staaten im außenpolitischen Bereich, die dem französischen Präsidenten zufolge das Potenzial besaßen, die deutsch-französischen Projekte für eine politische Zusammenarbeit zu gefährden. De Gaulle befürchtete dabei, dass Frankreich in einer erweiterten Gemeinschaft größere Schwierigkeiten haben würde, seine wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen, und die Aufnahme neuer Mitglieder dazu führen könnte, dass seine Führungsrolle durch eine stärkere Betonung der transatlantischen Beziehungen ins Hintertreffen gerät. Am 27. November 1967 – und damit noch vor Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit den Kandidatenländern – widersetzte sich General de Gaulle in einer Pressekonferenz ein zweites Mal einem Beitritt des Vereinigten Königreichs zu den Europäischen Gemeinschaften. Durch dieses zweite Veto General de Gaulles geriet Deutschland in eine heikle Lage. Während Bundeskanzler Kiesinger wie Italien und die Benelux-Länder einen Beitritt befürwortete, waren die Partner Frankreichs, die diese bilaterale Entscheidung nicht akzeptieren wollten, durch dessen Ablehnung gezwungen, alternative Lösungen zu finden, um aus der Sackgasse zu geraten und weiteren Kandidatenländern die Aussicht auf einen Beitritt zu ermöglichen. Dessen ungeachtet erteilte General de Gaulle jeglichen Vorschlägen eine Absage und drohte sogar, die EWG bei Beitritt der Briten zu verlassen, was die Isolation gegenüber seinen Partnern weiter verstärkte.  Das Misstrauen der fünf Mitgliedstaaten gegenüber der Europapolitik Frankreichs erreichte im Februar 1969 einen neuen Höhepunkt, als der französische Staatspräsident dem britischen Botschafter in Paris, Christopher Soames, vorschlug, das Vereinigte Königreich in eine große europäische Freihandelszone aufzunehmen, die die gemeinschaftlichen Strukturen ersetzen sollte.  Der britische Premierminister Harold Wilson lehnte den französischen Vorschlag nicht nur ab, sondern legte seinen Wortlaut ebenfalls den fünf Mitgliedstaaten dar. In der Folge wuchs die Distanz zu Frankreich weiter. Zu einer Neuaufnahme der Verhandlungen kam es erst, als Charles de Gaulle drei Monate später vom Amt des Präsidenten der französischen Republik zurücktrat.

 

Als sich General de Gaulle im April 1969 von der Macht zurückzog, fiel die Bilanz der ersten Jahre seit Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags durchwachsen aus. Tatsächlich war man weit von dem Ziel entfernt, mit dem Elysée-Vertrag eine echte Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern herbeizuführen. Viel zu oft mündeten die Zusammenkünfte lediglich in Absichtserklärungen und brachten keine konkreten Ergebnisse hervor. Bleibt die Frage, ob es den Nachfolgern gelingen würde, die tiefen Gräben zu überwinden und die deutsch-französische Annäherung fortzusetzen.

 

1969 vollzogen sich in Westdeutschland tiefgreifende politische Veränderungen.  Erstmals seit der Gründung der BRD im Jahre 1949 waren die Christdemokraten nicht mehr an der Regierung beteiligt. Die sozialliberale Koalition, die ab Oktober 1969 unter Führung Willy Brandts die Regierung stellte, wollte eine neue Außenpolitik und den Bruch von Tabus. Im Folgenden kam es zu einer gewissen Neuorientierung, gleichwohl ohne geschlossene Allianzen infrage zu stellen. Die wichtigsten Stellvertreter der neuen deutschen Politik für eine Entspannung in Europa sind der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und sein wichtigster diplomatischer Berater Egon Bahr. Am 28. November 1969 unterzeichnete die BRD mit der UdSSR den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Die so genannte Ostpolitik, d. h. die Politik der Normalisierung und der Öffnung nach Osten hin, sollte der Wirtschaftsmacht BRD wieder ihren Platz auf der Weltbühne verschaffen, indem sie im Zuge der allgemeinen Entspannung zwischen Ost und West erfolgte. Ihren Höhepunkt fand die Ostpolitik in den Ostverträgen. Der erste dieser Verträge wurde von der BRD und der UdSSR am 12. August 1970 in Moskau unterzeichnet. Da dieser Vertrag den Weg frei machte für die diplomatische Normalisierung und den territorialen Status quo bestätigte, galt er als Grundlage für die gesamte Ostpolitik. Vorgesehen war der Verzicht auf Gewalt zwischen den beiden Staaten und die Achtung der territorialen Integrität sowie der bestehenden Grenzen. Rasch folgten weitere Handelsabkommen (die BRD war der wichtigste westliche Handelspartner der UdSSR) und mehr und mehr Zusammenkünfte zwischen den Regierungschefs beider Länder.  Am 3. September 1971 ermöglichte ein zwischen den Vereinigten Staaten, Frankreich, der UdSSR und dem Vereinigten Königreich unterzeichnetes Viermächteabkommen, die Störungen der Zugangswege zu West-Berlin zu beenden und West-Berlin einen dauerhaften Status zu verleihen.  Die BRD und die DDR unterzeichneten am 21. Dezember 1972 in Ost-Berlin den Grundlagenvertrag, der die gegenseitige Anerkennung der beiden deutschen Staaten besiegelt und die Normalisierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen festschreibt. Bis zur Aussicht auf eine Wiedervereinigung wurden der diplomatische Status quo und die Unverletzlichkeit der innerdeutschen Grenze anerkannt. Die DDR wurde daraufhin auch von westlichen Ländern anerkannt. Im September 1973 wurden die BRD und DDR gleichzeitig Mitglied der Vereinten Nationen (UNO). Diese von Frankreich zunächst begrüßte Ostpolitik rief in Paris in Wahrheit große Besorgnis hervor, zumal die Politik Bundeskanzler Brandts die alte französische Angst vor einem Großdeutschland wieder aufkeimen ließ, das sich zu sehr an die Sowjetunion anlehnt.

 

In Frankreich indes betrieb der im Juni 1969 zum Staatspräsident ernannte Georges Pompidou eine kompromissbereitere und pragmatischere Politik als sein Vorgänger. Unter anderem widersetzte er sich nicht mehr grundsätzlich dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EWG. Gewählt dank eines proeuropäischen Programms war auch Pompidou daran gelegen, die Gemeinschaft aus jener Lethargie herauszuführen, in die sie durch bestimmte radikale Positionen geraten war, die General de Gaulle in Bezug auf einige europäische Fragen eingenommen hatte.

 

Was die Europapolitik anging, war sowohl Pompidou als auch Brandt daran interessiert, die europäische Integrationsbewegung voranzutreiben. Der französische Staatspräsident wollte dem Einigungsprozess neuen Schwung verleihen, um die politische Mehrheit zufriedenzustellen und insbesondere die finanzielle Regelung der GAP durchzusetzen. Sein Partner Willy Brandt hingegen wünschte sich gute Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften und will die Zusammenarbeit mit Frankreich wiederbeleben, um seine Ostpolitik zu flankieren. Pompidou und Brandt verständigten sich schließlich auf einen Plan für die Neubelebung, der die Begründung der Agrarpolitik, die Erweiterung mit Aufnahme von Verhandlungen mit Beitrittskandidaten sowie die Stärkung des erweiterten Europas vorsah. Bei Gipfel von Den Haag zwischen den sechs Mitgliedstaaten (1.-2. Dezember 1969) wurde das Abkommen besiegelt. Die Finanzierung der Agrarpolitik durch Eigenmittel wurde im April 1970 formalisiert. Die Verhandlungen über die Erweiterung begannen am 1. Juli 1970 und verzeichneten entscheidende Fortschritte, als der französische Staatspräsident mit dem äußerst proeuropäisch gesinnten britischen Premierminister Edward Heath zusammentraf.  Die beiden Staatsmänner einigten sich unter anderem darüber, die Identität der Nationalstaaten zu behalten und die Einstimmigkeit vorzuschreiben, sofern wichtige nationale Interessen im Spiel waren. Damit stützte sich Pompidou auf ein britisch-französisches Abkommen, um der mehr oder weniger föderalistischen Gesinnung seiner Partner zu trotzen. In Bezug auf die Vertiefung verständigten sich Pompidou und Brandt auf die schrittweise Umsetzung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) bis 1980. Doch wie diese Umsetzung im Einzelnen zu bewerkstelligen war, war Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten zwischen Bonn und Paris. Frankreich setzte auf eine währungpolitische Zusammenarbeit, um den Franc zu stützen und wirtschafts- und sozialpolitisch unabhängig zu bleiben und Wachstum und Vollbeschäftigung zu fördern, gleichzeitig jedoch Inflation in Kauf zu nehmen. Die Deutschen hingegen mit ihrer starken D-Mark hatten kein Interesse daran, die monetären Folgen einer lockeren Geldpolitik zu absorbieren, die ein Partner im völligen Alleingang betreiben könnte. Weitere Stolpersteine waren die Supranationalität der Institutionen der WWU mit einem gemeinschaftlichen Entscheidungszentrum und einer von der BRD geforderten, von Frankreich jedoch mit Verweis auf die Souveränität abgelehnten unabhängigen Zentralbank. Hinzu kam, dass Westdeutschland im Zuge der 1971 durch die Dollarschwemme verursachten Krise die D-Mark frei schwanken ließ, während Frankreich wieder Zollkontrollen einführte.

 

Gleichwohl wurde die Ausgangslage mit dem Beitritt des Vereinigten Königreichs komplexer. Beispielsweise waren sich Frankreich und das Vereinigte Königreich darüber einig, sich jeglicher institutionellen Reform supranationaler Ausrichtung zu widersetzen, derweil Deutschland Gemeinschaftsorgane aufbauen wollte. Als die sechs alten und die vier neuen, am 1. Januar 1973 beigetretenen Mitgliedstaaten (Vereinigtes Königreich, Dänemark, Irland und Norwegen) beim Pariser Gipfel (19.-21. Oktober 1972) beschlossen, bis 1980 eine „Europäische Union“ zu gründen, wurde dieser Begriff als Kompromiss zwischen der von Brandt vorgeschlagenen „Föderation“ und der von Pompidou und Heath bevorzugten „Konföderation“ gewählt. Doch wie diese Union konkret auszusehen hatte, wurde nicht festgelegt.

 

Im Folgenden nahmen die Misstöne zwischen Paris und Bonn zu. Problematisch waren die Tatsache, dass die Deutschen die GAP für zu kostspielig hielten sowie die von London geforderte und von Paris unterstützte Regionalpolitik und schließlich die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten während der Ölkrise von 1973. Die BRD stellte sich damals auf die Seite der Vereinigten Staaten, die die Einrichtung einer Organisation Erdöl verbrauchender Länder forderten, während sich der französische Außenminister Michel Jobert als einziger von den Vereinigten Staaten distanzierte. Dabei ging es ihm darum, die Beziehungen seines Landes zu den arabischen Staaten zu schützen und ein europäisches, von Washington unabhängiges Europa zu verteidigen.

 

Anfang 1974 waren die Impulse des deutsch-französischem Motors für die europäische Integrationsbewegung eher verhalten, zudem ermöglichte die Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn keine wesentlichen Durchbrüche.

 

 

 

 



[1] Die Multilaterale Atomstreitmacht (MIF) ist ein Ende der 1960er-Jahre von den Vereinigten Staaten begründetes Projekt, um eine strategische Nuklearmacht in die NATO zu integrieren. Das Projekt ging auf General Norstad zurück und wurde von Kennedy im Rahmen seines „Grand Design“ (großer Entwurf) auf den Tisch gebracht. Die Amerikaner wollten damit das Vertrauen ihrer westlichen Bündnispartner in einen amerikanischen Atomschutzschild für Europa stärken und ihren Willen bekräftigen, sich weiterhin an nuklearstrategischen Entscheidungen zu beteiligen.  Gleichwohl bleibt die Umsetzung der MIF aus.

 


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