Die Konferenz von Messina

Die Konferenz von Messina


In dem Wunsch, seine Handlungsfreiheit zurückzuerlangen, informiert Jean Monnet, Präsident der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Regierungen der sechs Mitgliedstaaten am 10. November 1954 darüber, dass er sein Mandat nicht zu verlängern beabsichtigt. Aus diesem Grund müssen die Außenminister der Sechs auf einer Tagung ein neues Mitglied der Hohen Behörde ernennen und für den Zeitraum bis zum 10. Februar 1957 den neuen Präsidenten und seine Vizepräsidenten bestimmen. Da sich der italienische Außenminister Gaetano Martino aufgrund der Wahlen zur Regionalversammlung in Sizilien aufhält, findet die Tagung am vom 1. bis zum 3. Juni 1955 auf seinen Wunsch in Messina (und teilweise in Taormina) statt. Es ist das erste Treffen der sechs Außenminister seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im August 1954. Unter dem Vorsitz des luxemburgischen Regierungschefs und Außenministers Joseph Bech tagen der französische Außenminister Antoine Pinay, Gaetano Martino, der deutsche Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten Walter Hallsein, der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak und sein niederländischer Amtskollege Johan Willem Beyen. Auf der Tagesordnung steht neben der oben genannten Frage auch die Prüfung des Aktionsprogramms zur weiteren Entwicklung der europäischen Integration.


Denn die Konferenz von Messina markiert den Beginn der europäischen „Relance“. Die Stimmung ist entspannt, zumal die deutsch-französischen Saarverhandlungen kurz zuvor zu Ergebnissen geführt haben, die von beiden Seiten als befriedigend erachtet werden. Ungeachtet des plötzlichen Sinneswandels von Jean Monnet, der am 21. Mai 1955 seine Kandidatur für seine eigene Nachfolge erklärt hat, einigen sich die Sechs schnell auf die Ernennung des ehemaligen französischen Regierungschefs und überzeugten „Europäers“, René Mayer, zum Präsidenten der Hohen Behörde. Der Belgier Albert Coppé und der Deutsche Franz Etzel werden zu Vizepräsidenten ernannt. Daraufhin konzentrieren die sechs Minister sich auf die Beratungen über das deutsche und das italienische Memorandum. Die höchste Aufmerksamkeit aber gilt dem Memorandum, das die drei Benelux-Staaten am 18. Mai verfasst und den drei anderen Regierungen zwei Tage später haben zukommen lassen. Die Sechs treffen keine Wahl zwischen der weiteren Integration nach Wirtschaftssektoren und der schrittweisen Einrichtung eines allgemeinen gemeinsamen Marktes. Aus diesem Grund beauftragen sie einen Regierungsausschuss, alle Möglichkeiten zu untersuchen. Antoine Pinay, der große Vorbehalte gegenüber einem allgemeinen gemeinsamen Markt und seiner möglichen Organe hegt, erreicht seinerseits, dass der Ausschuss nicht zur Erstellung von Vertragsentwürfen eingesetzt wird, sondern nur prüfen soll, was technisch möglich ist. Sofort schlagen die Minister der Benelux-Staaten vor, dass eine Persönlichkeit aus der Politik dem Ausschuss aus Regierungsvertretern und Fachleuten vorsitzen und die unterschiedlichen Arbeiten koordinieren soll. Da die anderen Partner sich bis dahin nur wenig mit Verfahrensfragen beschäftigt haben, wird diese Idee schnell angenommen. Der Name des ehemaligen belgischen Premierministers und Außenministers, Paul van Zeeland, wird genannt. Aber am 18. Juni wird auf Vorschlag von Johan Willem Beyen Paul-Henri Spaak von seinen Kollegen zum Vorsitzenden des auf der Konferenz von Messina eingesetzten Regierungsausschusses ernannt.


In Wirklichkeit treffen in Messina sehr unterschiedliche Auffassungen von Europa aufeinander: das Für und das Wider supranationaler Institutionen, das Für und das Wider der Ausweitung der Zuständigkeiten der EGKS, das Für und das Wider der vertikalen und der horizontalen Integration, Priorität für die Politik oder für die Wirtschaft … Trotz dieser Unterschiede wird in den frühen Morgenstunden des 3. Juni eine Einigung erzielt. Die lange Entschließung, die in hohem Maße den Standpunkt der Benelux-Staaten widerspiegelt, bildet ein ausreichend zusammenhängendes Ganzes, um den folgenden Arbeiten eine solide Grundlage zu bieten. In ihrer einleitenden Erklärung bringen die Minister grundsätzliche Haltungen zum Ausdruck, die den Debatten bereits eine Richtung verleihen, indem sie deren Tragweite präzisieren und ein festes Ziel stecken. Entschlossen, Europa seinen Platz in der Welt zu sichern und seinen Einfluss und seine Wirkung nach außen zu erneuern, setzen die Außenminister sich gleichzeitig das Ziel, den Lebensstandard der Bevölkerung ständig zu verbessern. Im Schlusskommuniqué der Konferenz bekräftigen die Sechs ihren Willen, „einen neuen Abschnitt auf dem Wege zum Aufbau Europas in Angriff zu nehmen … [und] dies zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet … Sie sind der Ansicht, dass auf dem Wege zur Schaffung eines geeinten Europa weitergegangen werden muss durch Entwicklung gemeinsamer Institutionen, durch fortschreitende Verschmelzung der Nationalwirtschaften, durch Errichtung eines gemeinsamen Marktes und durch fortschreitende Harmonisierung ihrer Sozialpolitik.“ Sie erklären schließlich, dass die Errichtung eines gemeinsamen europäischen Marktes ohne Zölle und ohne mengenmäßige Beschränkungen das Ziel ihres Handelns auf wirtschaftspolitischem Gebiet ist.


Dieser Markt kann jedoch nur schrittweise verwirklicht werden. Seine Durchführung erfordert die Bearbeitung folgender Fragen:


- Verfahren und Zeitmaß des schrittweisen Abbaus der Hindernisse im Wirtschaftsverkehr zwischen den Teilnehmerländern sowie geeignete Maßnahmen für die schrittweise Vereinheitlichung des Zollsystems gegenüber dritten Ländern;

- Maßnahmen zur Harmonisierung der allgemeinen Politik der Teilnehmerländer auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet;

- Annahme geeigneter Methoden, die eine ausreichende Koordinierung der Währungspolitik der Mitgliedstaaten sicherstellen, um die Errichtung und die Entwicklung eines gemeinsamen Marktes zu ermöglichen;

- ein System von Schutzklauseln;

- Schaffung und Arbeitsweise eines Anpassungsfonds;

- schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte;

- Ausarbeitung von Regeln zur Sicherung des freien Wettbewerbs innerhalb des gemeinsamen Marktes, insbesondere zur Ausschaltung jeder Art nationaler Diskriminierung;

- Ausgestaltung der Institutionen, die für die Errichtung und Durchführung des gemeinsamen Marktes geeignet sind.


Dieser Markt wird des Weiteren nicht nur als Wirtschaftsraum konzipiert, in dem die Waren frei verkehren können. Er geht weiter als die Sichtweise des Manchestertums von der Selbstregulierung, der zufolge ein gemeinsamer Markt sich nur durch den Abbau staatlicher oder privater Hindernisse für den freien Verkehr von Waren, Menschen, Dienstleistungen und Kapital definiert. Dieses Konzept geht von der Anwendung der Theorie der relativen Kostenvorteile und von Niveauunterschieden zwischen den Staaten aus. Was vor allem die französische Delegation befürchtet und was durch die immer häufigeren Eingriffe des Staates in die Wirtschaft hinfällig wird. Aus diesem Grund wird die Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitiken zu einem Pfeiler neben dem Konzept des gemeinsamen Marktes, wie es in der Entschließung von Val Duchesse definiert wird.


Was die Diskussionen um eine umfassende Integration oder eine Integration nach Sektoren angeht, verleihen die Außenminister in Messina ihrem Wunsch Ausdruck, Verhandlungen in beide Richtungen anzustrengen: Während die Integration von Teilbereichen wie beispielsweise des Verkehrs, der herkömmlichen und der Atomenergie untersucht werden soll, ist die Errichtung eines gemeinsamen Marktes ein weiteres Ziel. Die Nachteile eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand, denn die Arbeiten könnten unübersichtlich werden. Aber neben der Tatsache, dass sie aus einem Kompromiss heraus entstanden ist, wird die Methode der Sechs später Fortschritte in beiden Richtungen erlauben, da Spaak die Arbeiten aufteilt, indem er sie zwei verschiedenen Kommissionen anvertraut.


Für die herkömmliche Energie sieht die Entschließung von Messina die Bereitstellung größerer Energiemengen zu niedrigen Kosten für die europäische Wirtschaft vor, unter anderem durch den Austausch von Gas und elektrischem Strom, um die Wirtschaftlichkeit der Investitionen zu verbessern und die Kosten für die Energielieferungen herabzusetzen. Später werden allgemeine Richtlinien für eine umfassende Politik der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs aufgestellt. Während die Entschließung des Besonderen Ministerrates der EGKS vom 12. und 13. Oktober 1953 bereits gemeinsame Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur Koordinierung der Investitionen und zur Konjunktur vorsieht, impliziert die Entschließung von Messina die Einrichtung eines gemeinsamen Koordinierungsorgans und höchstens die Erweiterung der Zuständigkeiten der EGKS um die herkömmlichen Energien.


Aber damit nicht genug. Die Entschließung von Messina befasst sich auch mit der heiklen Frage der Atomenergie. Die sechs Minister erklären schließlich, dass die Entwicklung der Atomenergie zu friedlichen Zwecken die Aussicht auf eine neue industrielle Revolution eröffne. Deshalb sind sie der Ansicht, dass die Errichtung einer gemeinsamen Organisation untersucht werden müsse, die sowohl die Zuständigkeit als auch die Mittel zur Entwicklung der Atomenergie für friedliche Zwecke erhält. Dazu würde die Errichtung eines gemeinsamen Fonds zur Finanzierung der bestehenden oder zukünftigen Anlagen und Forschungen gehören, der aus den Beiträgen jedes Mitgliedstaates gespeist würde. Weiterhin würde das den freien und ausreichenden Zugang zu den Rohstoffen, den freien Austausch von Kenntnissen und Spezialisten, den Nebenprodukten und den spezialisierten Ausrüstungen umfassen sowie die Überlassung der Ergebnisse und die Gewährung finanzieller Beihilfen für ihre Auswertung. In Anbetracht der Tatsache, dass die Atomenergie ein Sektor ist, der bisher nur wenig von privaten Interessen berührt wird, und angesichts seiner möglichen militärischen Bedeutung befürworten die Verfasser der Entschließung von Messina die Schaffung einer europäischen Einrichtung, die sich als einzige mit nuklearen Fragen auseinander setzt und die über weit reichende Kontrollbefugnisse verfügt.


Im Verkehrsbereich einigen sich die Sechs auf die gemeinsame Entwicklung großer Verkehrswege, um die Ausweitung des Güter- und Personenverkehrs zu fördern. Dabei weisen sie vor allem auf die Netzwerke von Schifffahrts-, Straßen- und Luftverkehrswege hin. Die Entschließung von Messina sieht die Schaffung von Schutzklauseln und die Einrichtung zweier Fonds vor: eines Anpassungsfonds zur Unterstützung von Wirtschaftsakteuren, die von der Einrichtung des gemeinsamen Marktes getroffen werden, und eines Investitionsfonds, dessen Zweck in der gemeinsamen Entwicklung des europäischen Wirtschaftspotenzials und insbesondere der weniger begünstigten Gebiete der Teilnehmerstaaten liegt.


Schließlich befasst sich ein Absatz der Resolution von Messina mit sozialen Fragen. Die Sechs kommen überein, die schrittweise Abstimmung der einzelstaatlichen Bestimmungen zu untersuchen, insbesondere derjenigen bezüglich der Arbeitsdauer, der Entlohnung von zusätzlicher Arbeitsleistung und der Dauer und Entlohnung des Urlaubs.


Hinsichtlich des Verfahrens zur Konkretisierung dieser Ziele beschließen die Sechs, dass die Arbeiten des technischen Ausschusses den sechs Außenministern regelmäßig unterbreitet werden und dass ihnen bis spätestens zum 1. Oktober 1955 ein Gesamtbericht vorgelegt wird. Die gemeinsamen Arbeiten sollen unter Mitarbeit der Hohen Behörde der EGKS und der Generalsekretäre der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), des Europarats sowie der Europäischen Konferenz der Verkehrsminister stattfinden. In dem Bestreben, auch die Briten an den laufenden Bemühungen um die europäische Einheit teilhaben zu lassen, planen die sechs Minister, das Vereinigte Königreichs als Mitglied der Westeuropäischen Union (WEU), das seit Dezember 1954 auch mit der EGKS assoziiert ist, in die Arbeiten des Ausschusses einzubinden.

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