Einführung

Jede Gesellschaftsgruppe, jede organisierte politische Gesellschaft schafft sich die zu ihrer Identifizierung, Unterscheidung und Repräsentation notwendigen Symbole (oder Zeichen). Der Begriff „Symbol“ leitet sich bekanntlich von dem griechischen Wort „συμβάλλω(zusammenwerfen, zusammenfügen) ab, woraus „σύμβολονentsteht, das sich aus „σύν(zusammen) und „βαλλω(werfen) zusammensetzt. Im eigentlichen Sinne ist es ein Erkennungszeichen, das aus dem Einzelteil eines zerbrochenen Gegenstands aus Holz, Keramik oder Metall besteht, das genau zu den Übrigen passt. Das Symbol dient mithin als Identifikationsinstrument, als Erkennungszeichen zwischen Personen oder zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaftsgruppe.


Symbol nennt man heute gewöhnlich ein Zeichen, durch dessen Wahrnehmung ein anderer Sachverhalt vermittelt wird, mit dem es durch ontologische Beziehung oder reine Konvention verbunden ist und den es daher gewissermaßen intuitiv erfassbar macht oder für den es stellvertretend sein kann. Anders ausgedrückt, ergibt sich die Bedeutung eines Bildes, einer Buchstabenkombination (Abkürzungszeichen/Sigel), eines Wortes oder eines Satzes, eines Tones oder einer Musikmelodie durch Vorstellungsassoziation, so handelt es sich um ein Symbol. Voraussetzung ist, dass die Bedeutung des durch das Symbol bestimmten Aspekts bekannt sein muss, damit im Bewusstsein dessen, der Symbole betrachtet, hört und verwendet, die Vorstellung von einem Aspekt wachgerufen werden kann, der unbestimmt ist. Symbole bezeichnen deshalb ganz allgemein Zeichen, Bilder oder Gegenstände, die andere darstellen, mit denen sie verbunden sind.


Die politischen Symbole von Staaten (Flagge, Emblem, Leitspruch, Hymne, Währung, Nationalfeiertag) haben vornehmlich eine Identität stiftende Funktion.


Vor allem verleihen sie der nationalen Identität klare Konturen, indem sie sie greifbar werden lassen; mit anderen Worten, sie kodifizieren das subjektive Wesen einer Nation. Die Nation ist nämlich ein unsichtbarer Begriff, weshalb sie, um sichtbar werden zu können, Symbole benötigt, und um geliebt werden zu können, einer Hymne bedarf. Genau darin liegt die Identität stiftende Bedeutung eines Symbols, nämlich die Bürger darauf hinzuweisen, was ihnen eigen ist, und bei den Bürgern Vertrauen (affectio societatis) in das Zeichen zu wecken, das die Nation versinnbildlicht. Daher besitzen Symbole die Kraft zu einen und zusammenzuschließen, was sich zeigt, wenn von ihnen Gebrauch gemacht wird.


Beim Singen derselben Hymne, bei der Fahnenehrung derselben Flagge, bei der Verwendung derselben Währung, beim Feiern desselben Festes demonstrieren die Bürger einmütig ein Gemeinsamkeitsgefühl. Jedes politische Symbol ist daher ein greifbares Identitätszeichen, durch das die gemeinsamen Werte kodifiziert werden, die es darstellt und die in der Regel in der Verfassung ausdrücklich genannt sind.


Wie für die Staaten haben die politischen Symbole auch für die Europäische Union eine Identität stiftende Funktion. Sie sind die äußeren Zeichen jenes Verfassungspatriotismus — à la Habermas, wohlgemerkt —, durch den die Unionsbürger in dem Bewusstsein um ihre Zugehörigkeit somit ungeachtet ihrer Unterschiede zu konkretem Handeln für das öffentliche Gemeinwohl bewogen und folglich dazu gebracht werden können, die Europäische Union als ihr Zuhause, als ihre Heimat zu betrachten.


Die so verstandenen Symbole können auch zum Zusammenschluss eines noch im Entstehen begriffenen europäischen Volkes, eines europäischen Demos, beitragen. Selbstverständlich darf dies nicht in Gegenüberstellung zu den nationalen Demoi, den nationalen Völkern, geschehen, sondern muss vielmehr als Synthese der eigenen und gemeinsamen Werte eines weitgehend integrierten Raumes wie der Europäischen Union geschehen. Aus den durch den Verfassungsvertrag in Gang gesetzten Gemeinschaftsprozessen und Entwicklungen einer partizipativen Demokratie kann die Europäische Union als neues postnationales politisches Gebilde hervorgehen, das sich auf gemeinsame Werte gründet, bei denen nationales und europäisches Interesse miteinander übereinstimmen. Die politischen Symbole wie Flagge, Hymne, Leitspruch, Währung und Europatag können somit durch das Entstehen emotionaler und sogar unterschwellig wirkender Bilder und Riten dazu beitragen, dass die Europäische Union bei den Bürgern eine Legitimation erfährt und sich diese mit dem Projekt der gemeinsamen Schicksalsgestaltung identifizieren. Sie können mit anderen Worten dazu dienen, dass eine politische Identität aufgebaut wird und dass ein Kanon von Werten, die uns als Angehörige einer gleichen Gemeinschaft ausweisen, als rechtsverbindlich gilt.


Von den in Artikel I-8 des Verfassungsvertrags genannten Symbolen der Europäischen Union sind die Flagge mit zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund, die Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven (Symbole, die die Gemeinschaft vom Europarat übernommen hat) sowie der 9. Mai als Europatag bereits Tradition der Gemeinschaften und der Union, obwohl sie niemals durch primärrechtliche Bestimmungen festgelegt wurden; ferner ist der Euro die gemeinsame Währung der Mitgliedstaaten, die an der dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ohne Ausnahmeregelungen teilnehmen. Sieht man von ihrer Aufnahme in die Verfassung ab, ist mithin der Leitspruch offensichtlich das einzige neue Symbol der Europäischen Union, das im Verfassungsvertrag vorgesehen ist.


Wie erwähnt, enthalten die Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und der Vertrag über die Europäische Union keine Bestimmungen zu Flagge, Leitspruch, Hymne oder Europatag. Da die Verträge also keine Aussage hierzu treffen, sind die von den Organen ergriffenen Maßnahmen auf die Befugnis zur Selbstorganisation zurückführen, die notwendig ist, um das Funktionieren der Gemeinschaften und der Union sowie die den Organen durch die Verträge aufgetragenen Ziele zu gewährleisten. Zur Verfolgung der Ziele einer Einrichtung können nämlich sehr wohl Symbole erforderlich sein, durch die sie als eigenständige, rechtsfähige und Rechtspersönlichkeit besitzende Organisation ausgewiesen werden kann.


Artikel I-8 des Verfassungsvertrags mit der Überschrift „Die Symbole der Union“ führt nicht nur den Leitspruch neu ein, sondern verleiht den Symbolen zudem eine sichere Grundlage. Die Aufnahme in die Verfassung bedeutet selbstverständlich eine dementsprechend starre Regelung. Wollte man beispielsweise die Gestaltung der Flagge oder die Musik der Hymne oder das Datum des Europatags ändern, so müsste das im gleichen Verfassungsvertrag vorgesehene Vertragsänderungsverfahren eingeleitet werden. Ferner sei darauf hingewiesen, dass Artikel I-8 so wie ähnliche Bestimmungen in einigen nationalen Verfassungen gewiss nicht die Rechtskraft besitzt, um den Symbolen und speziell der Flagge die Natur eines verfassungsmäßig geschützten Rechtsgutes zuzuerkennen. Auch in der Rechtsordnung der Union wird ebenso wie im innerstaatlichen Recht der einzelnen Länder der Schutz der Symbole von den Durchführungsbestimmungen abhängen, deren Erlass der Union und deren Vollzug den Mitgliedstaaten obliegen werden. Sollte die Union jedoch untätig bleiben, müssen die Mitgliedstaaten jedenfalls in ihrem Rechtsprechungsbereich einen wirksamen Schutz der Symbole und insbesondere der Flagge sicherstellen, und zwar aufgrund der in Artikel I-5 des Verfassungsvertrags verankerten Loyalitätspflicht, die ihnen schon gegenwärtig nach Maßgabe von Artikel 10 (ex-Artikel 5) des EG-Vertrags obliegt, in dem der allgemeine Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft niedergelegt ist. Nach diesem Grundsatz müssen die Mitgliedstaaten nämlich die von den Gemeinschaftsorganen im Rahmen der Ausübung ihrer Befugnis zur Selbstorganisation beschlossenen Maßnahmen achten und insbesondere zulassen, dass diese in ihren Gebäuden die Europaflagge hissen.

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