Die Hymne der Europäischen Union



Die europäische Hymne ist das Vorspiel zur Ode an die Freude, dem Vierten Satz der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens. Das Verständnis der Kunst Beethovens ist eng mit der Kenntnis der geschichtlichen Zeit ihres Erschaffens verknüpft. Dies gilt zwar für jeden Künstler, im Falle Beethovens ist dies jedoch von entscheidender Wichtigkeit, denn seine Person markiert das Ende einer Geschichtsepoche und den Beginn einer neuen. Aber auch in der Musik und im Musikbegriff spiegeln sich Geistes- und Lebensbewegungen wider. Man denke nur daran, dass die Zeit Beethovens politisch gesehen durch die französische Revolution, die napoleonische Expansion und die Restauration geprägt ist. In gesellschaftlicher Hinsicht hingegen ist dieser Zeitabschnitt durch die vom Bürgertum erlangte Bedeutung geprägt, während sie geistig durch die bedeutende Entwicklung der deutschen Philosophie und Literatur sowie der Frühromantik in ihrer Ursprünglichkeit beeinflusst wird. Beethoven ist nicht mehr nur Musiker wie Mozart und insbesondere Haydn, sondern er ist gleichermaßen ein tiefer Denker, der sich mit den gesellschaftlichen Problemen und den neuen Ideen auseinander setzt, und in dem die französische Revolution deutliche und kräftige Spuren hinterlassen hat. Musik ist für ihn kein Selbstzweck, sondern besitzt einen hohen Stellenwert, und sie verkörpert fast immer eine Idee. Deshalb sind seine Kompositionen, speziell die der Reife und die Letzten, zum größten Teil nicht lediglich Ausdruck eines unbestimmten Gefühls, sondern wahre musikalische Poesien, die die verschiedenen Gedanken, ihre Phasen widerspiegeln, woraus dann häufig ein Thema entsteht. In gewisser Weise entsprach dieses dem Zeitgeist, bei Beethoven aber ist es stark durch seinen Charakter und seinen Genius geprägt. Beethoven ist der Musiker der Innenwelt, der Geisteswelt, der die Musik von jeglichem Formalismus befreit und alles einer Idee widmet. Diese Tendenz Beethovens zur Befreiung vom Materiellen verstärkte sich zunehmend, als seine Taubheit ihn von der Außenwelt entfernte und ihn isolierte. Da gelangt Beethoven zur vollkommen immateriellen Sichtweise, bei der das Gefühl höchsten Seelenfriedens die Schwere seiner körperlichen Verfassung mildert. Ernst ist Beethovens vorherrschende Charaktereigenschaft, aber auch er kann, wenngleich flüchtig, in Freude umschlagen, wie in der Neunten Symphonie.


Die Melodie der Ode an die Freude ist schlicht, gleichsam elementar, von offener, sonorer Kantabilität und eingängig. Beethovens Hauptbestreben war die Komposition in vollkommenem Gleichgewicht zwischen Einheit (sowie exakter Wiederholung) und Vielfalt, in einer sich leicht einprägsamen Form. In jenen Strophen, in denen die Werte der Wahrheit, der Freiheit, der weltweiten Brüderlichkeit, der menschlichen Glückseligkeit besungen werden, tritt der Mensch als Sieger über all das hervor, was ihn körperlich und moralisch erdrückt. Der aus der Taubheit, den beschränkten Verhältnissen, seiner unglücklichen Liebe und den Lebensängsten herrührende Schmerz begleitete Beethovens Leben über eine lange Strecke, selbst in glücklichen Zeiten. Durch die Verflechtung von Musik und Poesie werden die Kantschen Ideale der aufklärerischen Kultur jener Zeit, denen Beethoven sein Wissen und sein Innenleben gewidmet hatte, belebt und sublimiert. Gerade durch die Aufforderung zu Brüderlichkeit und Freundschaft, zu Liebe und Frieden, die durch die Ode sehr bildhaft symbolisiert werden, erklärt sich die vom Europarat getroffene und später von den Europäischen Gemeinschaften übernommene Entscheidung, als offizielle Hymne eine Ode an die Brüderlichkeit anzunehmen, die über die Grenzen der Nationen und sogar über die Unterschiede der Völker hinausgeht, um etwas Erhabeneres und Besonderes in die europäische Gesellschaft einzubringen.

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